Letzte Woche kam mein Sohn mit der Bitte aus der Schule, sich mit einem Jungen aus seiner Klasse (nennen wir ihn Tim) verabreden zu dürfen. Es war Neuland, denn zuvor hatte er noch nie mit ihm gespielt. Warum nicht, dachte ich und griff einige Zeit später zum Telefon. Sichtlich erfreut und nahezu überschwänglich reagierte Tims Mutter auf meinen Anruf. Ihr Sohn hätte so gut wie nie Verabredungen und sie würde sich langsam Gedanken machen, ob die Klassenkameraden ihn nicht mögen. Immerhin wären die Kinder nun in der dritten Klasse, da wären ja schon ein paar Jahre vergangen. Zeit genug, um Freundschaften zu schließen. Sympathisch klang das in meinen Ohren. Eine Mutter, die sich Sorgen um ihr Kind macht und realisiert, dass es Schwierigkeiten haben könnte!
Die Ernüchterung kam einige Augenblicke später: montags hätte Tim Klavierunterricht, allerdings erst um 17.30 Uhr, aber davor hätte er keine Zeit, weil er schließlich noch für den Unterricht üben müsse. Am Wochenende wären sie immer so sehr mit den Hausaufgaben und dem Lernen für die Schule beschäftigt, dass für das Klavierüben keine Zeit bliebe (hatte mein Sohn nicht erzählt, Tim würde immer nur Einsen schreiben?). Dienstags und freitags ginge Tim zum Hockeytraining, dienstags hätte er im Anschluss noch Schwimmkurs. Der Junge hätte schließlich sein goldenes Abzeichen noch nicht, das müsse man dringend angehen. (Dritte Klasse immerhin, da ist manch einer froh, wenn das Kind überhaupt vernünftig schwimmen kann). Malschule, Holzwerkstatt, Englisch und Tennis im Tennisclub nebenan (das sei ja so praktisch wegen der kurzen Wege), so ging es weiter.
Wenn ich mich recht erinnere – ehrlich gesagt habe ich irgendwann gar nicht mehr richtig zugehört – komme ich auf acht oder neun Termine in der Woche. Ich möchte gar nicht ausrechnen, wie viele Wochenstunden dieses achtjährige Kind mit Schule, Hausaufgaben und Nachmittagsprogramm zu absolvieren hat.
Das einzige Zeitfenster, das für eine Verabredung mit Tim blieb, war mittwochs zwischen 15 und 17 Uhr. Aber da hat MEIN Sohn Fußballtraining. Und da das neben Gitarrenunterricht seine einzigen fixen Programmpunkte in der Woche sind, will ich ihm sein heiß geliebtes Fußballtraining nicht nehmen. Total verschwitzt mit roten Wangen, ausgepowert und glücklich kommt er davon zurück. Und das ist uns beiden wichtiger als ein zeitlich getaktetes Spiel mit Tim am Mittwoch zwischen 15 und 17 Uhr. Verständlich, so hoffe ich.
Und als die Mutter dann am nächsten Elternabend die Klassenlehrerin nach Zusatzaufgaben zur Förderung ihres Kindes fragte, hat mich gar nichts mehr gewundert. Armer Junge.
Dass Kinder unter Freizeitstress leiden, ist ein bekanntes Phänomen. Wie schafft man den Spagat zwischen Förderung und Überforderung? Warum meinen Eltern, dass Vierjährige bereits Englisch lernen müssen? Ist es nicht wichtiger, möglichst viel Zeit mit Kindern im gleichen Alter zu verbringen, zum Spielen, Herumtoben oder einfach durch die Nachbarschaft streunen? Kräfte messen, mutig sein, zusammenhalten, Streiche spielen, Ängste aushalten, Fantasie, Quatsch und Abenteuer: Das hört sich nach Kindheit an!
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