Mein Bruder Mathias war schon immer einfach Mathias. Es gab für mich als Kind eigentlich nicht viel zu fragen. Ich bin mit ihm aufgewachsen, war jeden Tag mit ihm zusammen und wusste, was er kann und was er nicht kann. Er kann nicht laufen, nicht selbständig essen und nicht sprechen, wie es die meisten anderen Leute tun. Dafür kann er sich mit Lauten und Mimik gut mitteilen, wenn er etwas lustig findet, ihm etwas gut schmeckt oder wenn ihm langweilig ist. Mit Hilfe eines blickgesteuerten Kommunikationscomputers kann er seit zwei Jahren auch Bilder auf- und bestimmte Personen herbeirufen. Außerdem kann er sich von dem Gerät Texte, die ihn interessieren, vorlesen lassen. Und er kann schon immer die kleinen Dinge im Leben genießen – wie zum Beispiel ein Eis oder Knoppers zu essen, gestreichelt zu werden und in gut gestimmter Gesellschaft zu sein. Aus Gesprächen meiner Eltern mit anderen Erwachsenen hatte ich gehört, dass Mathias Geburt nur sehr stockend vorangegangen war und er eigentlich einen Kaiserschnitt gebraucht hätte. Jetzt sei in seinem Kopf etwas defekt und deshalb würde er sich anders entwickeln. Das änderte für mich aber nichts, denn für mich war er in erster Linie immer zuerst eins: mein Bruder.
Als wir gemeinsam in der gleichen Kindergartengruppe waren – noch ganz ohne „Inklusionsprogramm“ –, konnte er dort Anteil am wilden Spiel der Kinder nehmen, denn dort, wo viel los war, gefiel es ihm schon immer am besten – und das hat sich bis heute nicht geändert. Ich war dann häufig in der Rolle der Vermittlerin, die den anderen Kindergartenkindern erklärte, wie man mit Mathias umgehen kann, wie alles so gekommen war und dass man trotzdem mit ihm befreundet sein kann. Auch der neidischen Feststellung, er müsse sich nie selber anziehen und selbst essen, konnte ich mit „Er kann es aber auch gar nicht und er hat es sich nicht selber so ausgesucht …!“ den Wind aus den Segeln nehmen.
Als die Kindergartenzeit vorüber war, trennten sich unsere Wege. Aber natürlich nur, weil er früher eingeschult wurde und eine andere Schule besuchte. Und ich muss sagen: Mathias durfte eine wunderbare Schule besuchen: die Astrid-Lindgren-Schule in Neckarsulm. Dort hatte er Unterricht im Schwimmen, in Sport, Musik und Snoozeln – und das sind nur ein paar Gründe, warum er sich dort immer sehr wohlgefühlt hat. Die beiden Jahre, die ich noch im Kindergarten war und er schon in der Schule, durfte ich häufiger mit ihm mitkommen und die Freude darüber war jedes Mal groß. Denn auch ich bin heute noch davon begeistert, wie dort mit Mathias Beeinträchtigung umgegangen wurde.
Leider waren nicht alle Menschen so unvoreingenommen wie die Leute in der Astrid-Lindgren-Schule: In der Öffentlichkeit wurden wir durchaus angeschaut. Aber im Rückblick macht es stark, trotzdem gemeinsam weiterzugehen. Anstrengend sind Gebäude, die keinen Aufzug haben und zusätzlich eventuell noch eine schmale Treppe. Da können wir – also meine Mutter, mein Vater, mein jüngerer Bruder Florian oder ich – ihn nur über kurze Strecken hochtragen. Das sind aber wirklich nur kleine Problemchen, denn eigentlich geht die ganze Familie sehr offen mit Mathias Geschichte um. Als positiv empfinden wir es, wenn Leute offen auf uns zukommen … und gerne dürfen Kinder alle Fragen stellen, die sie logischerweise haben.
Im Alltag tut meine Familie schon immer alles dafür, dass Mathias keine Hürden zu bewältigen hat. Das Haus, in dem wir auf unserem Hof wohnen, ist behindertengerecht gebaut, mit einem Aufzug in den ersten Stock, sodass Mathias bis heute ganz normal zu Hause wohnen kann. Meine Mutter übernimmt den allergrößten Teil der Pflege – und sie tut dies mit viel Hingabe, Überzeugung und Liebe seit mittlerweile 29 Jahren jeden Tag. Sie würde sich nie beschweren, obwohl es eine Aufgabe ist, die viel Kraft abverlangt. Aber mein Bruder ist jeden Handgriff wert. Dabei versucht er auch selbst zuzupacken, so gut er es eben kann. Werktags kann Mathias von 7.30 bis 16.15 Uhr in die Kraichgauwerkstätte nach Sinsheim – und es freut mich natürlich total, dass er dort ausgezeichnet betreut wird. Denn das Wichtigste was wir unseren Mitmenschen geben können, ist Liebe und gegenseitigen Respekt – egal in welcher Verfassung sie sind.
Posted on Categories Zusammen leben