2016 wurden über 720.000 Kinder* eingeschult. Manche davon freiwillig mit 5 Jahren – weil sie überdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten haben, oft schon lesen, rechnen oder gar schreiben können. Das macht die Eltern stolz. Leider jedoch bleiben andere Kriterien dabei oft auf der Strecke.
Neulich habe ich eine Mutter von zwei Jungs kennengelernt. Ganz banal am Spielfeldrand bei einem Fußballspiel meines Sohnes. Eine nette Frau, mit der ich mich lange unterhalten habe. Um uns herum spielte ihr jüngerer Sohn, mit dem ich irgendwann auch ins Gespräch kam und er mir erzählte, dass er bald Geburtstag hätte. Ich schätze ihn auf vier – aber nein, er war schon fünf und würde bald sechs. Klein war er. Und zart. Er war ein nettes Kerlchen, und wir haben tatsächlich eine Weile gequatscht.
Irgendwann hatte er keine Lust mehr und fing an, seine Mutter offensichtlich zu nerven. Ihm sei langweilig. Die Mutter war gut gewappnet und zog ein Buch aus der Tasche, das sie ihrem Kind reichte. Das war der Moment, in dem ich sprachlos wurde. Der kleine, zarte Junge fing laut zu lesen an. Flüssig, ohne Stottern. Ja, er sei schon in der ersten Klasse, erklärte mir seine Mutter, nicht ohne Stolz. Sie hätten sich nach reiflicher Überlegung und vielen Gesprächen mit den Erzieherinnen dazu entschlossen, das Kind vorzeitig einzuschulen. Vorzeitig bedeutet aber in diesem Fall nicht ein paar Wochen über dem Stichtag zu sein, also ein Geburtstag im Oktober oder November, nein – das Kind wird erst im März sechs!
Natürlich sei er der Jüngste der Klasse und es gäbe sogar ein Kind, das genau zwei Jahre älter sei. Aber ihr Sohn würde sich prächtig machen und hätte keinerlei Schwierigkeiten. Ganz famos und fabelhaft würde alles laufen.
Plötzlich endete ihr Redeschwall und ich spürte, dass etwas nicht stimmte. Wortlos nahm sie ihren Sohn an die Hand und verschwand. Das Buch blieb auf unserer Bank liegen – ein Zeichen für mich, dass sie wiederkommen würde. Und so war es auch. Ich sah sie fragend an und bemerkte hektische Flecken in ihrem Gesicht. Ihr Unbehagen wahrnehmend vertraute sie mir an, dass ihr Sohn sich in die Hose gemacht hätte. Jedoch kein Pipi … Es würde ihm immer wieder passieren, eigentlich wäre er noch nie trocken gewesen, aber sie könne ja schließlich ein Schulkind nicht mit Windel rumlaufen lassen.
Ob ihm das denn in der Schule auch passieren würde? Ja. Ich habe mich nicht getraut sie zu fragen, wer denn dem Kind den Popo abwische und was es mit der stinkenden Kleidung mache. Ist so etwas zumutbar? Arme Lehrerin! Und noch schlimmer: armer Junge! So etwas kann ein Sechsjähriger, ach nein: Fünfjähriger, nicht lange geheimhalten. Peinliche Situationen sind quasi vorprogrammiert – Kinder können grausam sein.
Sicher sind viele Eltern stolz auf die Intelligenz ihres Kindes, was sie dazu bewegt, den Nachwuchs früher einzuschulen. „Hochbegabt“ und „schon weiter als seine Freunde“ sind Schlagwörter, die gerne in den Mund genommen werden. Solche Kinder gibt es sicher, keine Frage. Aber mindestens genauso wichtig wie das Auffassungsvermögen und die Lernbereitschaft sind die sozialen Kompetenzen und Fähigkeiten eines Kindes. Nur wenn diese altersgerecht ausgeprägt sind, schaffen Kinder es, sich in Gemeinschaften einzufügen und sich zu behaupten.
Da kann einem das kleine Kerlchen mit der vollgemachten Hose richtig leid tun.
*Genauer gesagt: Im Schuljahr 2016/2017 wurden nach vorläufigen Daten 721.800 Kinder eingeschult. (Quelle: Statistisches Bundesamt)
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