Das letzte Jahr des Medizinstudiums wird Praktisches Jahr genannt. Wir Studenten lernen in dieser Zeit möglichst selbstständig, aber noch unter Anleitung, Patienten zu untersuchen und zu behandeln. An welchem Universitätsklinikum wir das tun, steht uns weitgehend frei. Weil ich in Afrika noch nie südlich der Sahara war und gerne eine eher nicht-westliche Kultur kennenlernen wollte, habe ich zwei Monate meines Praktischen Jahres in Kenias Hauptstadt Nairobi geleistet.
Wie anders es wirklich sein würde, war mir vorher nicht in dem Ausmaß klar. Das Universitätsklinikum Kenyatta National Hospital ist ein öffentliches Krankenhaus. Die Krankheitsbilder sind hier häufig viel ausgeprägter, als man sie in Deutschland finden würde.
Der Grund dafür ist, dass es zwar seit zwei Jahren eine freiwillige Krankenversicherung für circa 5 Dollar pro Monat und Familie gibt, diese aber für viele Menschen – bei sehr hohen Lebenshaltungskosten und häufig einem Monatseinkommen von 80 Dollar – noch zu teuer ist. Deshalb kommen viele Menschen erst, wenn die Brust beispielsweise schon ein einziges Geschwür ist. Natürlich gibt es hier auch ein anderes Spektrum an Krankheiten: HIV mit oder ohne Tuberkulose, Kaposi-Sarkom und Malaria sind sehr weit verbreitet.
Wie die Gesundheitsversorgung in Nairobis Slums Mathare (etwa 180.000 Einwohner) und Kibera (Schätzungen gehen von 500.000 bis 700.000 Einwohnern aus) abläuft, konnten wir bei Besuchen von Medical Centers der German Doctors und Ärzte ohne Grenzen erleben. Diese Organisationen leisten unverzichtbare und hochqualifizierte Arbeit. In den Slums sind laut Schätzungen bis zu 60 Prozent der Menschen HIV-positiv. Sie erhalten die Medikamente gegen Aids und Tuberkulose und bei Mangelernährung auch Nahrung kostenlos in den Centern. Sobald die Patienten ihre Medikamente nicht wöchentlich abholen kommen, werden sie von einer Schwester in Begleitung von Sozialarbeitern, die das Viertel gut kennen, zu Hause besucht.
Diese Hausbesuche waren sehr eindrucksvoll, denn es gibt außer einem Fluss kein Abwassersystem und keine Müllentsorgung. Dafür aber Patienten, die sich trotz Erklärungen über Ansteckungsgefahr und Lebensverkürzung weigern, die kostenlose Medikation einzunehmen. 42 Prozent der Menschen in Kenia sind jünger als 15 Jahre alt. Deshalb sind überall Kinder, die mit dem spielen, was sie finden. Es ist ihr normaler Alltag, sie sind lebensfroh und auch die Erwachsenen sind freundlich – spätestens nach einem Gruß auf Swahili weicht anfängliche Skepsis. Ohne die Sozialarbeiter hätten aber weder die Krankenschwester noch wir beiden Studentinnen sicher durch den Slum gehen können. Als Mensch mit weißer Hautfarbe ist man hier eine absolute Rarität. Das Wort für Weißer lautet Muzungu – was man überall auf der Straße auch häufiger entgegengerufen bekommt.
Zurück im Krankenhaus
Auf der chirurgischen Station fehlt es teilweise an grundlegenden Dingen wie Verbandsmaterialien, Schmerzmitteln oder einem Beatmungsbeutel für eine Reanimation. Dafür gibt es viele Gründe: Korruption, Diebstahl oder die Logistik im 1.800-Betten-Haus – wo sich häufig aber zwei bis drei Patienten ein Bett teilen müssen. Der Umgang mit den Patienten ist manchmal befremdlich distanziert. Das hätte ich vorher nicht geglaubt, aber es gibt noch deutlich weniger Kommunikation zwischen Arzt und Patienten als dies in Deutschland der Fall ist. Immerhin gibt es trotz allem des Öfteren Erfolgserlebnisse. Vor allem wenn Patienten gesund nach Hause entlassen werden. In privaten Kliniken soll die Versorgungslage allerdings deutlich besser sein.
Das Verhältnis der Menschen (zumindest bei denen, die ich treffen durfte) zu Geburt und Tod ist recht natürlich. Labour Ward wird der Kreissaal hier genannt. Dort entbinden vier Frauen in einem Raum. Es wird sich gegenseitig angefeuert, denn Ehemänner sind hier sowohl von Hebammenseite als auch von vielen Frauen nicht erwünscht. Im Kenyatta Hospital werden an Rekordtagen bis zu 100 Kinder entbunden – und so war es kein Problem, nach einiger Beobachtungszeit Geburten leiten zu dürfen.
Die Traditionen der insgesamt über 40 verschiedenen Stämme Kenias variieren sehr. Es gibt einige, für die der Körper nach dem Tod für die Trauerarbeit keinerlei Rolle mehr spielt. Mit diesen Körperspenden trainieren dann beispielsweise die niederländischen Ärzte vom Projekt Eardrops junge einheimische Ärzte darin, Operationen am Ohr durchzuführen.
Leben und Wohnen
Fußläufig vom Krankenhaus entfernt durfte ich bei einer kenianischen Dame (zusammen mit einer weiteren deutschen Medizinstudentin; wir haben uns hier erst getroffen) wohnen. Sie hatte viele Insider-Tipps und immer eine Auskunft parat. Die Natur hier ist unglaublich. Bei einer frühmorgendlichen Ausfahrt im Samburu Nationalpark war ich zu Tränen gerührt von all der Schönheit. Neben Elefanten sind meine neuen Lieblingstiere Giraffen, weil sie so sanft sind – und Warzenschweine, weil sie mit aufgestelltem Schwanz hintereinander im Schweinsgalopp so witzig aussehen. Diese Pumbas werden hier auch Afrika-Express genannt und dienen aber unter Einheimischen als Schimpfwort, weil sie ihnen nur wenig Intelligenz zuschreiben.
Auf Deutschland freue ich mich trotzdem schon wieder. Es wird sich nach so viel Lebensqualität anfühlen, einfach überall auch bei Nacht hinlaufen zu können, ganz ohne über Sicherheit nachdenken zu müssen und kaum Security-Gates zu haben. Es ist mir erneut klar geworden, wie unwahrscheinlich gut wir es in Deutschland haben. Besonders auf unser Sozial- und Gesundheitssystem können wir stolz sein. Meiner Meinung nach sollten wir noch mehr darauf achten, die Unterschiede zwischen Reich und Arm zu Hause sowie weltweit nicht weiter wachsen zu lassen und nie aufhören, zu überlegen, wie wir den Menschen, denen es schlechter geht als uns, helfen können.
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