Auch wenn Erwachsene meistens denken, dass Kinder wild und ungestüm sind, Essenszeiten und Händewaschen vergessen und auf höfliche Gepflogenheiten verzichten – Kinder sind Regelfreaks.
Das merkt man insbesondere dann, wenn man selbst gegen Regeln verstößt, die man innerhalb der Familie mühsam durchgesetzt hat. Beispiel: Während des Abendessens klingelt das Telefon und man nimmt den Anruf entgegen, obwohl man zuvor zigmal erklärt hat, weshalb beim gemeinsamen Abendessen nicht telefoniert wird. Kind 1: „Papa!“ Kind 2: „Nicht telefonieren, hierbleiben!“ Kind 1, warnend: „Paapaaa!“ Kind 2: „Wir essen jetzt!“ Papa: „Leute, dem Opa ging’s heute nicht gut, die Oma war mit ihm beim Arzt und ich hatte sie um Rückruf gebeten …“
Warum ist das so? Einfache Antwort: Kinder tapsen durch eine ihnen weitestgehend unbekannte Welt. Regeln geben dem Handeln Verlässlichkeit und sorgen dafür, dass die Dinge funktionieren. Zeigt die Fußgängerampel grün, kann man gefahrlos die Straße überqueren. Das Brötchen kostet beim Bäcker 35 Cent – hab ich den Betrag dabei, bekomme ich auch eines. So Sachen halt, Magie des reibungslosen Funktionierens der Welt durch Regeln. Soweit so vernünftig und gut!
Regeln brechen – mit Begründung
Anders stellt sich die Sache dar, wenn die Kinder sieben Jahre oder älter sind. Dann kann man, glaube ich, anfangen, ihnen zu erklären, wann scheinbar in Stein gemeißelte Regeln außer Kraft gesetzt werden können und unsere Regelfreaks das aushalten müssen. Beispiel: Ich bestehe darauf, dass meine Kinder beim Roller/Fahrrad/Inliner fahren Helm tragen. Egal, ob auf dem Hof oder sonstwo. Meinen Zivildienst habe ich auf der Rettungsstelle absolviert, ich weiß also, wovon ich rede. Ich selbst trage jedoch nur einen Fahrradhelm, wenn ich allein und zügig unterwegs bin. Seit meinem 10. Lebensjahr fahre ich Radrennen – und ich finde es unnötig, bei doppelter Schrittgeschwindigkeit Helm zu tragen. Die Kinder haben dies akzeptiert: Papa für sich trägt Helm, mit uns unterwegs trägt er keinen und er hat Gründe dafür.
Regeln im Ausnahmezustand
Bekanntlich ist Essen und Naschen ein großes Thema in Familien. Die in vielen Familien – wie auch unserer – praktizierte Faustregel lautet: Nichts Süßes vor der jeweiligen Hauptmahlzeit. Weil sonst die frisch und vitaminschonend zubereiteten Bio-Gemüse liegenbleiben und dem Goldkind wieder nur Industriefutter zugeführt wird – stimmt ja auch. Die sechsjährige Tochter hat diese Regel zu befolgen; bei der Neunjährigen ist es mir egal. Ich weiß, wenn sie um halb sechs Uhr ein paar Stück Schokolade isst, bleibt die Portion Pasta zum Abendbrot nicht stehen: Sie kann gut dimensionieren, ich muss da einfach kein Auge mehr drauf haben. Regel folglich außer Kraft gesetzt, Motto: „Nimm dir was, du hast das gut im Blick!“ Die drei Jahre Jüngere hätte das nicht – und wäre wie ein Hund mit Bewachen des Wurstvorrats überfordert.
Großwerden hat etwas damit zu tun, das rechte Maß zu finden bei der Anwendung von Regeln. Auch mal Danebenliegen gehört dazu, also auch einmal Sachen falsch zu entscheiden und sich mehr zuzutrauen als es gut und richtig ist. Dann haben Eltern die Aufgabe zu erklären. Zu erklären, warum sie in den meisten wichtigen Punkten schon noch die Verantwortung tragen, aber ein Ausgleich aller berechtigten Interessen gesucht und meist auch gefunden wird. Und das beste am Regelverstoß ist schließlich, dass er das Bewusstsein dafür schärft, was wirklich unabdingbar ist – oder was man auch lässiger handhaben kann.
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